2. Dezember 2019

Lorca in Stichwörtern: ein multimediales Alphabet

von Marco Kunz

 

Ganzer Artikel hier zum Download als PDF

 

in: »die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik«
Bd. 268, 62. Jahrgang

 

Es gibt ein Bruchstück des Morgens
Federico Garcia Lorca, noch einmal gelesen
Zusammengestellt von Martin Zingg

30. November 2018

„Paderborn ist besser als eine Kugel im Bauch“ – ein Essay von José F.A. Oliver

 

„Generell neigt Beck sehr dazu, Lorcas lyrische Bilder zu überzeichnen. Beck bauscht Lorcas einfache Dramaturgie auf, er dramatisiert über Lorca hinweg. Es scheint, als vertraue er der Lorcaschen Poesie nicht zur Genüge, als fühle er sich genötigt, an manchen Stellen gerade zu rücken, eine Becksche Glättung vorzunehmen, um dem deutschen Leser einen recht angehübschten Lorca anzuempfehlen. Mitunter gerät es so weit, dass Beck seine Leser regelrecht für dumm verkauft. Er erklärt, er schlussfolgert – er übersetzt die Metaphern, jedoch nicht zwischen, sondern in der Sprache.“  Ulrike Spieler[1]

 

„And what is to be delivered by the translator is not a translation of a poem, but a poem based on a poem.“     Paul-Henri Campbell[2]                                                                                                                                              

 

 

 

„Paderborn ist besser als eine Kugel im Bauch“[3]

 

 

¡Ay![4]

 

Dies ist keine Verteidigungsschrift für einen geschmähten Übersetzer und abgelehnten Dichter, der 1904 als Kind jüdischer Eltern in Köln geboren wurde. Es ist bestimmt aber der im Innern, in meinem cante jondo ausfransende Text eines Zweiflers. Eines Zweiflers, wie ich es im Laufe der Jahre einer geworden bin. Ich misstraue, um es gelinde zu formulieren, den bisweilen demütigenden und letzten Endes verletzenden Verrissen und Aburteilungen in Bezug auf die Übersetzungsentscheidungen Enrique Becks in dessen Lorca-Variationen. Ich weiß nicht, was „richtiges“ oder „falsches“ Deutsch sein könnte. Ich weiß es nicht. Genau so wenig, wie ich eine Antwort darauf hätte, was „spanisch“ (ist sei wäre!) und was nicht. Geschweige denn, dass man mich für einen Auskunftsexperten halten darf, der Ihnen den Weg in ein „richtiges“ oder „falsches“ Spanisch zementiert. Oder sollte ich eher vom „Kastilischen“ sprechen und das Wort „spanisch“ erst gar nicht benutzen?

 

Welche „Übersetzung“ ins Deutsche wäre eine ent:sprechende? ¡Ay!

 

 

 

 

Lassen Sie mich nur ein paar Verse zitieren, um für diesen Kurz-Essay einen Anfang zu setzen. Das Original aufrufend und ein paar Pfade des insgeheimen Versschmuggels. Alles andere führte hier zu weit. Lorca schrieb: „Romance de la luna, luna // La luna vino a la fragua / con su polisón de nardos. / El niño la mira, mira. El niño la está mirando. / En el aire conmovido / mueve la luna sus brazos / y enseña, lúbrica y pura, sus senos de duro estaño./ Huye luna, luna, luna. / Si vinieran los gitanos, / harían de tu corazón / collares  y anillos blancos (…)“.

 

Beck übersetzte in der 1953 in der Insel-Bücherei publizierten Ausgabe der „Zigeuner Romanzen“ – beachtenswert die Trennung der beiden Wörter – diese Verse wie folgt: „Romanze vom Monde, vom Monde // Luna kam herab zur Schmiede, / der Turnüre Bausch aus Narden. / Und das Kind beschaut, beschaut sie. / Und es schaut sie an das Kind. / In dem leis gerührten Winde / rühret Luna ihre Arme / und sie zeigt voll Lust und Reinheit / ihrer Brüste hartes Zinn. / Fliehe, Luna, Luna, Luna. / Wenn jetzt die Zigeuner kämen, / machten sie aus deinem Herzen / Halsgeschmeid und weiße Ringe. (…)“

 

In der 2002 veröffentlichten neuen Übertragung von Martin von Koppenfels lesen wir: „Mondsüchtige Romanze // Kam einmal Frau Mond zur Schmiede, / duftend und mit Krinoline. / Und der Junge sieht sie, sieht sie / und der Junge sieht sie an. / In den aufgeregten Lüften / spielt Frau Mond mit ihren Armen / und sie zeigt ihm, spröd und lüstern, / Brüste aus getriebenem Zinn. / Mond, Mond, Mond, versteck dich schnell. / Wenn jetzt die Zigeuner kämen, / würden sie aus deinem Herzen / Schmuck und blanke Ringe machen. (…)“

 

Ich habe diese erste „Mond Romanze“, die von Lorca Conchita García Lorca gewidmet wurde, im letzten Jahr in einer vorläufigen Fassung expressiver ins Deutsche wundgeholt: „romanze von der mondin, mondin // Kippt die mondin ihre narden, / ihren lustreif in die schmiede. / Blickt und blickt, das kind erblickt sie. / Blickt das kind die todin an. / Durch die nachterregte luft / leibt die mondin ihre arme, / und entblößt aus nackter gier / brust um brust aus hartem zinn. / Fliehe, mondin, mondin, flieh! Die Zigeuner sind schon nah, / und die schnappen sich dein herz,  / machen einfach schmuck aus ihm (…)“

 

Entscheiden Sie – oder schreiben Sie weiter an der unendlichen Übersetzungsgeschichte dieser Verse, die doch so viel Lorca in sich tragen, ohne ihn ganz zu fassen.

 

Mir gefallen sowohl die Beck´sche „Turnüre“ und das „Halsgeschmeid“ und der „getriebene Zinn“ von Koppenfels und dessen Versvariation „Mond, Mond, Mond, versteck dich schnell“. Mir gefällt aber auch „Die Zigeuner sind schon nah / und die schnappen sich dein Herz“. Wobei ich immer noch überlege, ob „Zigeuner“ die sich verbündende Übersetzung von „gitanos“ ist… ¡Ay!

 

Eines sei in diesem Sinne mitnotiert: Ich bin ein glühender Verehrer der vielfältigen Sicht auf die Dinge und der ästhetischen Mehrstimmigkeit aus Blickwinkel und Blickwinkel. Wenngleich – meerstimmig wäre auch ein schön-kontemplatives Wort ins Läuternde einer Ahnung. Dem Ohr entlehnt.

 

Was höre ich, was lese ich und vor allem: was sage ich, wenn ich übersetze? Diese Zeilen sind folglich ein Plädoyer für die Diversität poetischer Annäherungen, Interpretationen und ästhetischer Haltungen. „Falsch“ oder „richtig“ sind nicht die Kategorien, mit denen ich W:orte erlebe und durchs Leben gehe. Schauen Sie deshalb bei diesem flüchtigen, an manchen Stellen aus einem Unbehagen heraus und hin und wieder auch polemisch argumentierenden Beitrag wie auf das Einschimmern einer Auflehnungsmetapher. Wider all das Besserwissertum in vieler Richter*innensprüche, wo es um Enrique Beck geht. Mein Widerstand, den ich nicht bis ins Detail begründen kann. Eine Übertragung m:einer Verstimmung also, die mindestens zwei Seiten hat. Im Sinne der zwei (sprichwörtlich gewordenen) Seiten der Medaille und, das käme nachdenklich hinzu, einer dritten, wenn auch schmalen Fläche, die dabei ja in dieser so alten wie weisen Redensart um Kopf und Zahl zumeist außer Acht gelassen wird: der Rand der Medaille nämlich.

 

Insofern, um im Bild zu bleiben, wage ich mich lieber und am liebsten auf den Rand der Medaille. Lorca, die eine Seite. Wie er selbst sagte: Andalusier[5], Dichter und Lebens-Durchdringer im Widersprüchlichen der Not. Das Nahe, besser gesagt, ihm Nächste, aus dem Oralen seines Erlebens in seine Lyrik verschriftend: Tonlage, Duktus, Stimmhöhe. Eingehört, an- und fortgeschrieben.

 

Beck, die andere Seite dieser „spanisch-deutschen“ (sic!) Münze. Als Sinnbild des Widersagens – auch mit „e“. Des Wiedersagens.

 

Zwei Dichterpersönlichkeiten und verdichtete Wirklichkeiten, die einerseits epochal verquer aufeinandertrafen, weil Jahrhunderte zwischen ihnen lagen; die andererseits vielleicht aber doch einen universellen Augenblick, den zeitlosen Augenblick, der absoluten Einsamkeit, des mutierenden Alleinseins, miteinander teilten. Ohne sich jemals in persona begegnet zu sein.

 

Der chilenische Schriftsteller Luís Sepúlveda schrieb einst in seinem Roman „Der Alte, der Liebesromane las“ zweimal den leitmotivischen Satz „Letzten Endes war er wie einer von ihnen, aber nicht einer der ihren.“ Das trifft auf beide zu. Auf Lorca und auf Beck. Zwischen einem Andalusien aus señoritos und jornaleros, das Lorca in Andalusien erfahren hatte, und den kaum mehr vorstellbaren Jahren der schlangenbrütigen Rassenideologie, die Beck schleichend und angriffswütig und vernichtend, wie sie waren, in seine Gedichte und seine Biographie schreiben musste. Von den Toden der Eltern bis hin zur eigenen Flucht.

 

Es gibt eine Verbindung der Demütigung, des Gedemütigt-Seins und der menschenverachtenden Ausgrenzung.  Lorca, der sich aufgab, indem er nicht floh, bevor er verschleppt, vergewaltigt und ermordet wurde; und Beck, der gezwungen war, sich in seinen Übersetzungen regelrecht fortzumauern, um zu überleben. Eine Frage sei an dieser Frage daher gestattet. Eine von vielen: wie empfand ein Jude (im Deutsch-Sein) die Sprache, in und mit der die Shoa möglich wurde? Auch das wäre ein Thema für sich. Das eine Wirklichkeits- und Worterleben im „spanischen“ Sprachraum, das andere im „deutschen“…

 

Vor diesem Hintergrund sei noch angefügt, dass das deutsche Wort „bäuerlich“ auf die Anbauflächen Andalusiens ebenso wenig zutrifft, wie das Wort „singen“ für die andalusische Seins-Form im Bedeutungshof des Wortes „cante“. Und „gitano“ ist in der Begriffs-Vorstellung „Zigeuner“, wenn überhaupt, nur angedeutet.

 

Lorca und Beck. Beide, in ihren jeweiligen Wort-; Bild- und Sprach-Universen sind übersetzte Exile. In jeder Hinsicht getrieben, vertrieben, aufgerieben.

 

Es gibt keine Endgültigkeit in Sprache. Keine definitive Übersetzung. Gefühle prägen unterschiedliche Empfindungen und Empfindsamkeiten und Gedanken mutieren dem Gesagten mit jeder Minute davon. Bilder sind unwägbar. Eine Frage des Lichteinfalls in der bewussten oder unbewussten Haltung in Bezug auf die Wirklichkeiten. Realidades, mit denen auch ich umgehe und die gegebenenfalls Wege aber keine Wahrheiten sind. Deshalb hüte sich, wer kann und willens ist, vor allzu überheblichen Adjektiven wie „altmodisch“, „blumig“, „kitschig“. Was überladen scheint, könnte, im Nachhinein betrachtet, ein notwendiger, dann doch länger ausreichender und nährender Proviant sein. Was als „karg“ bezeichnet wird, könnte im Inneren der Herkunft üppige und wuchernde Wundblumen erblühen lassen. Verdikte wie folgender sind deshalb mindestens zu hinterfragen: „In Deutschland wird man vielleicht mit einer neuen Übersetzung den wahren García Lorca kennenlernen. Die deutsche Lorca-Mode der fünfziger Jahre beruhte teilweise auf falschen Voraussetzungen; die manchmal recht blumigen Texte des neoromantischen Lyrikers Beck mögen aber auch zu dem schnellen Erfolg im Nachkriegsdeutschland beigetragen haben, weil sie Lorcas Werk so exotisch machten“.[6]

 

Ich frage mich stets und wiederhole mich gern, was ist „wahr“, was ist „deutsch“ und was sind „falsche Voraussetzungen“? Das Wort „exotisch“ bedürfte auch eines eigenen Essays.

 

Wie viel Biographie darf sein, muss sein, wenn ich übersetze? Wie viel der eigenen – sowohl der Dichter*innen, die das Original geschrieben haben, als auch derjenigen, welche ein zweites, drittes oder viertes Original schaffen. Und wie viel Biographisches trägt ein Text, der, so glaube ich, niemals von s:einer Zeit gänzlich abfallen kann. Zeitlosigkeit ist meines Erachtens auch keine Kategorie, die dem „Amt des Übersetzers“, wie Elisabeth Borchers die große Aufgabe einst bezeichnet hat, gerecht würde.

 

Mein lyrisches Ich  (Hommage an Beck!) hat lange damit gerungen, diesen Textauftrag anzunehmen. Von meinem biographischen ganz abgesehen. Das biologische lasse ich außen vor. Die Gründe liegen auf der Hand. Beziehungsweise nicht wirklich in meiner Hand.

 

Da ist zum einen mein bisweilen ungestümes und demgemäß auch nicht archivarisch geordnetes „andalusische“ Erbe. Ein kontinuierliches Aufbegehren. Hier im fernen Schwarzwald. Nein, nicht rein rational, nicht rein emotional. Auch kein graues Gebräu beider Wahrnehmungspurezas. Hier das Andalusische, dort das Alemannische. Und viceversa. ¡Ay! Und – m:ein Ich dazwischen. „Letzten Endes wie einer von ihnen, aber nicht einer der ihren.“

 

Der innere Auf-Bruch wäre angesichts dieser realidades eher mit dem Begriff „Erfahrung“ ins Nachvollziehbarere gebracht, sprich in ein intuitives Eigensein. Und da ist eine Wirklichkeit in mir, die mit diesem Erbe und Nicht-Erbe (über)lebt. Sich w:ort-verleibende, durchaus leidenschaftliche Behausungen im Nomadentum meiner Seele. Ein Plural.

 

Übersetze ich „la luna“ mit „der Mond“ oder doch mit einem gewagteren „mondin“ und kleingeschrieben? Und: welchen Mond meinte Beck, als er schrieb: „Ich will in den Süden, an das mondlächelnde Meer. Um Christi Willen in den Süden – j´en ai assez, du nord. Ich kann hin und wieder meine Arme nicht mehr bewegen, nicht mehr schlucken vor Rheumatismus. Nein, ich will in den Süden. Ich will in den Süden. Man hat mich ermordet. Und ich will auferstehen. Im Süden. Ach ich armes armes Eselchen. Ich will in den Süden. Gehen Sie mit in den Süden?“[7]

 

Da ist in mir also, ob ich will oder nicht, ein W:ort: „Andalusien“. Und da ist diese geburtsfortsterbende, letzten Endes doch versöhnende Symbiose zwischen „mar“ und „mare“ – Meer und Mutter. Zumindest das „m“, ob groß oder kleingeschrieben, eint die beiden Wirklichkeiten auch mit und im Deutschen. Meine kleine Genugtuung, wo es in der Begegnung der Kulturen um das Buchstäbliche geht. Im Spanischen käme noch ein Drittes hinzu: la letra m“ (eme) – der Tod. Wie in „m“ von muerte. Mare ist übrigens, aber das wissen die Kundigen, nicht zu verwechseln mit dem italienischen Wort für Meer. Mare ist das verinnerlichende, andalusisch fühlgenährte Wort für „madre“, um es kastilisch und akademiekorrekt auszudrücken.

 

Ein paar weitere Gedankenbündel „Lorca“ fallen mir noch ein, die mich zunächst ebenso haben zögern lassen, ins Blaue hineinzuschreiben. Ins „Blaue der Blume Becks“, der zwischen darbendem Dasein und fortt:reibender Sehnsucht nach Lebensfülle, sich s:einen eigeninterpretatorischen Versgarten schuf, um zu retten, was nicht zu retten war und ist – den „Süden“. Vielleicht sogar nur seinen Süden, seine Vorstellung des Südens, in den Norden, seinen Norden oder seine Vorstellung des Nordens, zu übersetzen. Denn da ist kein Meer, das dazwischen läge. Es sei denn die Rettung bestünde darin, sich selbst zu sein – auch beim Übersetzen. Immerhin wäre das ein nicht zu unterschätzendes Lebens- und Überlebensmotiv für Becks Don Enrique.

 

Doch, auch wenn es textspät erscheinen mag, ich will mich sammeln. Zumindest der gefühlslogischen Reihe nach einfinden.

 

„Mientras todos piden pan“, schreibt Lorca 1927 über Góngora – él pedía la piedra preciosa. Sin sentido de la realidad real, pero dueño absoluto de la realidad poética.“[8] Damit war seine Haltung zu Góngora umrissen, dessen 300. Todestag Anlass war, an dessen Dichtkunst als Vision und Künftiges zu erinnern und letzten Endes auch den Ausschlag gab, die Dichtergeneration, der auch Federico García Lorca (von außen betrachtet) angehörte, als “Gruppe 27” oder die „27er-Generation“ zu bezeichnen. Die „Enkelgeneration“ der Dichterinnen und Dichter nach der 98er- und 14er-Generation. Neben dem Brot, vielleicht gar vor dem Brot, gibt es die „poetische Realität“ als realen, gesellschaftlichen Hunger.

 

„Im Zweifel für den Angeklagten“. Ich weiß nicht, wie ich zu diesem Satz komme. Vielleicht will ich es auch gar nicht wissen. Oder vielleicht doch? Zu oft sah ich mich selber einem Satz ausgesetzt, der mich natürlich auch geprägt hat. Hier im Norden, auch wenn ich im Südwesten des Nordens lebe: „Ach, du, mit deiner andalusischen Sentimentalität!“

 

Das ist ein stumpf-messeriger Angriff auf die Seele, die anders schöpft. Seit ich denken kann.

 

Dieses ständige Sich-Beweisen-und Erklären-Müssen, dass es eine andere Gefühlslage gibt, durch diese Welt zu gehen, als diejenige, die abgeklärt-nüchtern, schier unbeteiligt analysierend, und von einer oft besserwisserischen Manier begleitet, von Selbstverleugnung geschärft wird, wo el sentimiento, wenn überhaupt greifbar, doch ausschließlich die Greifbarkeit des Wassers bedeutet kann. Nicht nur des Wassers, sondern der Wasser, die fließen. Insofern will ich noch ein wenig nachfächern, was mich bewegt, wenn ich Lorca lese und was mich abschreckt, wenn das schiere Unterfangen, seine Gedichte in die deutsche Sprache zu holen, mit bestimmten Prädikaten des Absoluten abgescholten werden.

 

Vielleicht weil ich, wie bereits mehrfach gesagt, bei der oft (zu) verurteilenden Kritik an Becks großem Versuch und der nicht minder großen Versuchung, die ihm dabei zur Begleiterin wurde, seiner vehementen pasión für den Dichter aus Andalusien, dem Rätsel Lorca bis ins eigene Mark eintauchend, nächstzukommen. Was er dabei wusste, wissen konnte, aber auch wissen wollte, ist eine Herausforderung für alle, die sich auf seine nachdichtende Interpretationen einlassen. Auch für mich.

 

Es ist, wie es ist. Es sch:eint, wie es ist. Der Oleander, die Sehnsucht. Das geheimnisvolle Versteck als Immer-Jetzt-Exil, das Münder öffnet: la pena – oder andalusisch ausgedrückt: pena, penita, pena… Es ist wahrlich eine „Qual“ – allein die Über-Setzung des Wortes „pena“ an die Ufer des Deutschen. Und je weiter ich ins Landesinnere des Deutschen vordringe desto abenteuerlicher wird es. Was beispielsweise, wenn „pena“ auch noch in der Verkleinerungsform „penita“ Eingang in ein Gedicht gefunden hat (Verniedlichungsform? – auch so ein Wort „verniedlichen“… klingt fast wie „nett“… niedlich, nett, usw.) und auftritt?

 

Doch zurück.  Spricht es, das ANDERE? Sagt es, wenn es spricht? Was verraten die Verse, die so herkunftseingebettet das Wort „popular“ mitleiben lassen? Vor allem jedoch, was höre ich, wenn ich die fremden Verse lese und wie gebe ich weiter, was ich höre? Wie sage ich es in der Andersprache? In meiner Sprache? Und wer urteilt dann über diese Sprache? Es ist ein schwierig Ding. Weil jedes Ohr so eigen ist. Als ein paar Stunden vor Lorcas bestialischer Ermordung sich seine Schwester Sorgen machte und ihn fragte, ob er Kommunist sei, antworte er lachend, um sie zu beruhigen, vielleicht aber auch, um sich selber zu beruhigen: „Concha, Conchita mía, olvídate de todo que dice la gente. Yo pertenezco al partido de los pobres.“[9]

 

Die Zeit steht Patin. Auch eine Vorstellung, die nur Gerüst ist. Und zwischen Patin und Patina die Feststellungen, die Meinung, das Urteil. „Staub“ und „Veralterung“ sind ein Teil davon. Ich bin vorsichtig. Klarheit bedeutet alsabald Unklarheit. Auch diese Erkenntnis ist eine Annäherung.

 

Es gibt viele Lorcas in dem einen, der so hieß und dichtete, wie er dichten musste. Eine Wirklichkeits-Fiktion. Wie diese Standpunkt-Skizze, die sich an die Vielheit anlehnt. Mein Lorca, dein Lorca, unser Lorca… der Lorca der anderen – wer immer das auch sei. Diese Einschreibung und Irritation strebt nicht in die Zusammenfassung, sondern ins Ausfransende. Damit ins Offene.

 

Ein essayistisches Fragment ins Offene, das wahrnimmt, indem es Bilder verbindet, die in meinem Kopf wurden und w:erden. Nicht minder im Herzen. (¡Ay! altes Bildherz; noch älteres Wortbild: corazón – einer der Vornamen Lorcas… del Sagrado Corazón. Aber dies nur am Rande, obwohl was gedankenverspielt daherkommt, oft eine dunkle Tiefe klar zu Tage bringt). Und umgekehrt. Oder symbiotisch verbunden Herz und Kopf: Sentimental. Apasionado. Enrique Beck schrieb in einem Vorwort zu seiner 1948 erschienenen Rowohlt-Publikation Federico García Lorca GedichteAusgewählt und Deutsch von Enrique Beck: „Des Dichters Wortgesamt hat Physionomie (… ): aus alter Erbschaft, weitem eigenen Erfahren, eignem Werden. Man hat bemäkelt, diesem „Ismus“ sei er zugeneigt und jenem abhold. Wozu der Eifer einer Ismus-Rutengängerei? Man soll, was lebt, in einen Ismus-Sarkophag nicht schließen. Auch ist hier nichts „eklistisch“ – ich spreche von dem Ganzen, das verschmolzen – und schimmernd ist der Schmelz –,  und gehe nun ins Werk: doch kann ich mehr kaum geben als nur Namen.“[10]

 

Wenn ich übersetze, spreche ich von einem zweiten, dritten, vierten Original. Das ist mir lieber, ehrlicher. Das Ganze als Variationen.

 

Für mich ist Andalusien m:ein Augenblick.

 

Ahora. Andalucía, ahora. Andalusien ist

¿qué? Was? Oder wer? Preguntaría el sabio

 

würde der Wohlwissende fragen… Also google ich in mir selber, erziele Treffer, die nicht treffen, sondern zufallsweise aufstöbern, und reihe eine Spurenkette aus W:orten her. Einen poetischen Historienzauber, magia oder duende. Ein Wort-Geschichtenschmuckstück, ein Wirklichkeitsgewand aus Brokat, Stofflappen und Sommerhüten. Jene Wahrheitsbitternis, amargura, zwischen cante jondo und pateras – Wanderdünen & Wandertote, Schlauchbootfezen. Was gestern war, veraltet. Und gestern ist schon heute. Morgen.

 

Das Mittelmeer ist tief, auch gierig, wo der Atlantik am Felsen wellenlechzt: Land & Meer & Mensch. Ein aufgeheiligtes Gestern, ein heutiges Morgen aus Namen und Orten: Montefrío Kalter Berg; Santa Cruz Heilig Kreuz; azahares Orangenblüten; Puerta de la Carne Tor zum Fleisch; Guadalquivir, al-wād al-kabir, Großer Fluss; penitentes Büßer; olla gitana Zigeunereintopf; mendigos Bettlerhände; Widerstand & das Chorgestühl Europa-Afrika; Geist & Geometrie der Traumarchitektur; Córdoba, Málaga, Jaén; Costa del Sol y de la Luz & Totgemachte, die angespült, wie Sand verweht am Meer; EU; Klischees & Karawanen der Kulturen. Das Einst bedeutet Jetzt. Das Jetzt nicht Morgen. Das Jetzt ist eine Uhrzeit ohne Uhr, die tickt: ¡Sí! Andalucía es

 

una hora. Zeigerlose Zeigerglut, Fatamorgana. Ziffernblatt. Ein patio als Gehäuse.

 

Heute weiß ich mehr als 1948 oder 1998.

 

„… doch kann ich mehr kaum geben als nur Namen.“ Ob das schon (ein) Widerstand ist? Ich bin von diesem Satz zumindest sehr angetan, weil berührt. Es ist eine Haltung. Zumindest die dezidierte Überzeugung, es dem Vorhandenen aus Text und Tod nicht so einfach machen zu wollen. Das passt zum Sohn eines Bankangestellten, Lehrers und späteren Bücherrevisors und Wirtschaftsprüfers. Das Leben sei wertvoller als des Kaisers graues Ehrenkleid und eine Pickelhaube. ¡Sí!  Wenn dereinst ich sterbe… dann sei, möchte ich hinzufügen, das geliebte Leben m:eine Fremde, nicht die der Unterdrückung. Wenn dereinst ich sterbe … cuando yo me muera / enterradme

 

Ich gestehe, es fiel mir schwer, diesen Beitrag zu schreiben. Zum einen, weil ich mich natürlich in meiner spanisch-deutschen Lebens- und Lesebiographie erst spät mit den Übersetzungen der Werke Lorcas in die deutsche Sprache auseinandergesetzt habe. Viele seiner Verse waren mir zuvor schon vertraut. Über das Andalusische meiner Eltern, das fernab vom Kastilischen eine Seins-Form andeutete, wenn nicht gar bedeutete. Mutter, die seine Lieder sang und jedes „¡Ay!“ nicht nur ihre eigene Leidens- und Liebesgeschichte in sich trug. Vater, der Lorcas Verse zeitlebens rezitierte und sich irgendwann einmal seine Verse zu eigen machte, in dem er nicht in einer Wetterfahne „beerdigt“ sein wollte, aber doch „dort – trotz der E:migration – „wo aus der trockensten Erde noch eine Blume wächst…“ Das konnte nicht der Schwarzwald sein, in dem er als Gastarbeiter nur eine vorübergehende Bleibe hatte finden können.

 

Lorca war in unserem Alltag im Schwarzwald zuhause. Eine Art Trost und Widerstand in einem. In die Ausgrenzung hineingeboren worden zu sein, ließ mir mit der Zeit ein eigenes Gehör Gestalt werden. Die Nuancen deutlich wahrzunehmen in einem Land, (wie) Deutschland beispielsweise. Ein Land, in dem jener Satz, den ich schon zweimal in diesem Text zitiert habe, bis heute seine Gültigkeit nicht verloren hat. Obwohl er in ganz anderen Zusammenhängen geschrieben wurde: „Letzen Endes war er wie einer von ihnen, aber er war nicht einer der ihren.“ Auch dieser Satz gehört zu meiner Biographie – in diesen Tagen wieder stärker ausgeprägt, bewusster in Erinnerung gerufen. Er begleitet letzten Endes auch die Lektüre, wo es um die Kritik der Lorca-Übersetzungen geht.

 

Wer Lorca verstehen will, braucht den Tod an seiner Seite. Als Konkurrent und als Komplizen. In seiner weiblichen Form. Nicht in der männlichen Ausgabe oder Erscheinung deutscher Sprache, sondern in der weiblichen Gestalt der „spanischen“. Allein dieser kulturelle Unterschied scheint unübersetzbar.

 

Wahrscheinlich liegt darin eines der Rätsel begründet, weshalb der Nachdichter Beck, der nackten Tatsache des Todes zwar in die Augen gesehen hatte und zeitlebens sah. Diese Nacktheit jedoch in einer barock anmutenden, oft auch romantisierenden Wortgewähr und schier „spanischen“ (sic!) Ausschmückung ihr Wesentliches treiben lassen wollte: Morir – sterben.

 

Ich kann es Sr. Beck nicht verübeln. Er hat versucht, das „Spanische“ des Spanischen und im Falle Lorcas auch das „Andalusische“ im Spanischen für die deutschsprachigen Leser*innen nachvollziehbar zu machen.

 

Wie greife ich also eine Übersetzung, die Übersetzungen, in denen dieser kulturelle Wechsel als rettendes Ufer erreicht werden muss. Ich weiß, es gibt im Deutschen, schier vergessen den Ausdruck der „Tödin“, aber die war längst untergegangen in der Sprache, die Ziel sein sollte, einen der bedeutenden Dichter der „spanischen“ Sprache auszuschmuggeln.

 

Als Enrique (Heinrich) Beck 1904 geboren wurde, hat Federico García Lorca vielleicht gerade das „Romanzen-Singen“ gespielt, der beliebte Wettbewerb unter Kindern, klassische Romanzen zu rezitieren, bisweilen zu singen oder er hat einfach nur taggeträumt, ein berühmter Stierkämpfer oder Boxer zu werden. Vielleicht gerade als Cruz de Mayo, als Mai-Kreuz verkleidet – auf jeden Fall sicherlich im Andalusischen der Vega Granadas das Landleben in s:einer Kindspoesie wahrgenommen und w:erden lassen.

 

Wie viel davon konnte sein späterer Übersetzer, von dem die Biographin Sibylle Rudin-Bühlmann schreibt „Fehlenden Kenntnisse… mangelnder Wortschatz“ aus diesen Kindertagen wissen?

 

Braucht es Duende, um zu übersetzen… Ist Duende ein Dämon, wie Beck schreibt oder eher daimonion im griechischen Ursprung aufgehoben… und wieviel der Herkunftsbedeutung bleibt?

 

Was aber, wenn die Herkunft disparate Züge annimmt? Hier ich, dort Du; kein Wir. Du rot, ich nicht; du tot, ich Not. Wie ein Abzählreim – wäre es nicht so furchtbar, hundertausendfach furchtbar und mehr – weil die Totgemachten des Spanischen Bürgerkrieges eine Größe darstellen, die ein Schätzwert ist – bis heute… ¡Ay!

 

Ich hätte mich gern mit Enrique Beck unterhalten. So wie ich es seinerzeit mit Rafael Alberti tat, als ich ihn in Madrid aufgesucht hatte; oder später, Jahre später, die Nichte Lorcas in der Residencia de Estudiantes in Madrid zum Gespräch traf, als ich glaubte Lorca stünde leibhaftig vor mir. „Ja, sagte sie mir, es ist unsere Aufgabe, das Werk Lorcas immer wieder von neuem bekanntzumachen.“

 

Bleiben wir dran…

 

 

[1] Ulrike Spieler, Total verBeckt! Übersetzen als Identifikationsakt und Zugehörigkeitshandlung: Federico García Lorcas Romancero Gitano und dessen deutscher Übersetzer Heinrich Enrique Beck, Magisterarbeit im Fach Kulturwissenschaft an der Humbold-Universität zu Berlin, Dezember 2013

[2] Paul-Henri Campbell, Translating the Zeitgeist, in: Das Gedicht, Pegasus & Rosinante. When Poets Travel. German Poetry now, Chapbook, S.57

[3] Sibylle Rudin-Bühlmann, Enrique Beck. Ein Leben Für García Lorca. Exil in Spanien und in der Schweiz, Pendo, Zürich 1993, S. 18

[4] Äußerst sympathisch ist mir, dass Enrique Beck in seinen Nachdichtungen das originale Lorca-¡Ay! Einfach original belässt.

[5] In einem Gespräch mit E. Giménez Caballero antwortet Lorca 1928 auf die Frage „¿Qué eres?“: „Andaluz, que no es igual, aún cuando todos los andaluces seamos algo gitanos. Mi gitanismo es un tema literario. Nada más.“ (dt. „Was bist Du?“: „Andalusisch, was nicht das Gleiche ist, auch wenn wir Andalusier etwas der gitanos in uns tragen. Mein gitanismo ist ein literarisches Thema. Nichts weiter.“)

[6] Walter Haubrich, Der helle Dichter dunkler Liebe. Andalusische Tradition und experimentelles Kalkül: Zum hundertsten Geburtstag Federico García Lorcas, FAZ, IV, Samstag, 6. Juni 1998, Nummer 129

[7] Sibylle Rudin-Bühlmann, Enrique Beck. Ein Leben Für García Lorca. Exil in Spanien und in der Schweiz, Pendo, Zürich 1993, S. 54

[8] In etwa: „Während alle nach Brot verlangen, wollte er den Edelstein (haben). Ohne den Sinn für die wirkliche Wirklichkeit, aber als absoluter Meister der poetischen Wirklichkeit“.

[9] Auf Deutsch in etwa: „Concha, ach meine Conchita. Vergiss, was die Leute reden. Ich gehöre der Partei der Armen an.“ In: Francsico García Lorca, federico y su mundo, Alianza Editorial, Madrid 1980, S.XXVII.

[10] Enrique Beck, Federico García Lorca. Gedichte. Ausgwählt und Deutsch von Enrique Beck, Rowohlt Verlag Hamburg, 1948, S. 6

 

José F.A. Oliver, 2018